Misshandlung vs. Deprivation

Frühere Misshandlung oder doch geistige Verwahrlosung?

 

Inhalt

Die "Sensible Phase"

Straßenhunde, Streunerkatzen und andere Wildlebende

PTBS und Depression

"Dorfhundekrankheit"- Verhaltensprobleme durch Reizmangel

Selbstverteidigung und offensiver Angriff

Bewältigungsstrategien schaffen

"Bedingungslose Liebe" und "Dankbarkeit"

 

Insbesondere im Umgang mit Tieren, deren frühere Lebensweise uns kaum oder gar nicht bekannt ist, werden auftretende Probleme im Alltag schnell mit einer  früheren Misshandlung erklärt. In Bezug auf Tiere ist damit üblicherweise die körperliche Gewalt gemeint, auf die ich mich im Folgenden beziehe.

Bei dem Vorwurf der Misshandlung handelt es sich meistens um eine Mutmaßung, die unter Umständen  den ehemaligen Tierbesitzer zu Unrecht beschuldigt und wodurch der Kern des eigentlichen Problems übersehen werden kann.

In den vielen amtlichen Haltungskontrollen, an denen ich in den letzten Jahren beteiligt war, zeichnete sich vor allem eines ab: es gibt nicht nur schwarz und weiß! Diese Tiere lebten vielleicht nicht unbedingt artgerecht, aber sie wurden umsorgt und geliebt. Teilweise so sehr, dass sie vorbeugend vor den möglichen Problemen in der Außenwelt abgeschirmt, oder gar von zuviel Liebe und Vermenschlichung erdrückt wurden, sodass sie Abwehr-Strategien entwickelten. Sie stammten vielleicht aus Vermehrungen, in denen sie fehlerhaft sozialisiert, zu früh von der Familie getrennt oder einfach nicht ausreichend mit anderen Individuuen und Umweltreizen vertraut gemacht wurden. Oder sie verloren ihre sozialen Fähigkeiten nach und nach durch die fehlenden Anreize in der Haltung. Auch Krankheiten und die damit verbundenen (Zwangs-)Behandlungen können Emotionen bei einem Tier auslösen, die später zu der Annahme verleiten, es wäre misshandelt worden. 

Einige Tiere wiederum wurden erwiesenermaßen körperlich misshandelt - und trotzdem blieben sie ihrer Bezugsperson gegenüber loyal und reagierten freundlich auf alle Menschen, denen sie begegneten, als wäre nie etwas vorgefallen. Menschliches Fehlverhalten und Gewalt bleibt durch fehlende negative Emotionen des Tieres in der Öffentlichkeit oft unsichtbar. Umgekehrt muss ein problematisches Verhalten keine Misshandlung als Ursache haben.

Auch innerartliches Aggressionsverhalten wird oft mit früher erlebten Angriffen begründet. Jedes Tier, das mit Artgenossen interagiert, wird früher oder später auch schlechte Erfahrungen mit diesen sammeln, das lässt ein Tier nicht automatisch verhaltensauffällig werden. Von den Medien wird eine solche "schlimme Vergangenheit" jedoch gern aufgegriffen. Es weckt Mitgefühl bei Leser und Zuschauer. Dann wird im TV beispielsweise der leinenaggressive, pubertierende Rüde als Frauchens treuer Beschützer dargestellt - genau genommen hat er nur einfach nicht gelernt, wie er sich bei Begegnungen mit fremden Artgenossen richtig zu verhalten hat und hält sie deshalb lieber vehement auf Abstand. Solche falschen Diagnosen erschweren die Problemlösung und Gefahren werden falsch eingeschätzt.

Ein Tier erzählt nicht von seiner schlechten Vergangenheit. Es reagiert nur auf Dinge, die es gelernt oder eben nicht gelernt hat. 

Eine Ausnahme bilden extrem traumatische Erlebnisse, welche die Physiologie des Gehirns dauerhaft beeinflussen können - sei es durch verkleinerte Hirnareale oder eine Störung des Botenstoffwechsels. 

Auch durch geistige Verwahrlosung, insbesondere in den frühen Entwicklungsphasen, können dauerhafte Veränderungen am Gehirn eintreten, die sich später kaum mehr ausgleichen lassen (schwerwiegendes Deprivationssyndrom bzw. Hospitalismus). Auch in diesem Fall zeigen Tiere typische emotionale Reaktionen, die fälschlicherweise als Antwort auf frühere Misshandlung gedeutet werden können.

Auch Tierschutzvereine urteilen manchmal vorschnell und unterstellen bei Aggressions- und Angstproblematiken hin und wieder eine frühere Misshandlung, die eigentlich nie stattgefunden hat. Insbesondere im Auslandstierschutz gehört eine möglichst ergreifende Lebensgeschichte häufig einfach dazu, es wird mit dem Mitgefühl der Interessenten gespielt. Laut den Charakterbeschreibungen auf Vermittlungsseiten haben unzählig viele Hunde aus Tierschutzorganisationen ein beinahe traumatisches Leben bei fürchterlichen Menschen geführt oder wurden als Straßenhunde höchstwahrscheinlich von Passanten misshandelt. Dabei handelt es sich in aller Regel um Mutmaßungen. Diese armen Geschöpfe würden eigentlich nur den "ganzen Tag schmusen" wollen und "ganz viel Liebe benötigen" -  und der neue Halter versteht dann die Welt nicht mehr, wenn er bei einem nettgemeinten Annäherungsversuch plötzlich gebissen wird und sich mit laufender Eingewöhnung, trotz Liebe und Mitgefühl, immer neue Unarten zeigen.

Die "Sensible Phase"

Durch Neuronale Plastizität ist zwar ein Leben lang das Lernen möglich, die wichtigsten Weichen werden jedoch durch Prägung, Sozialisierung und während der Sensiblen Phase im Jungtieralter gestellt.

Prägung ist ein einmaliger, unumkehrbarer Prozess, der insbesondere bei Vögeln zu beobachten ist (zB. Nachlaufen). Bei anderen Tierarten wiederum, wie beispielsweise Hund und Katze, tritt eine solche Form der Prägung dagegen nicht auf. Hier spricht man heute von Sozialisierung innerhalb prägungsähnlicher Phasen.

Die "Sensible Phase" ist ein Zeitraum, der die ersten Lebenswochen bis -monate umfasst und beginnt, sobald die Sinne für die Verarbeitung von Umwelteindrücken ausreichend ausgebildet sind. In dieser Zeit sind Jungtiere extrem empfänglich für Umweltreize und soziale Interaktionen. Hier lernen sie grundlegende Dinge über ihre Umgebung, Artgenossen und den Menschen. Nach dem "Use it or lose it"- Prinzip werden benötigte neuronale Verbindungen gefestigt oder neu erstellt, ungenutzte Verbindung dagegen gelöscht. Werden in dieser Phase wichtige Erfahrungen versäumt, können sich später Verhaltensstörungen wie Ängstlichkeit oder Aggression entwickeln. Insbesondere in der Sensiblen Phase lernen Jungtiere auch, wie sie Gefahren und Feindbilder erkennen und einordnen.

Durch eine erhöhte Ausschüttung von Stresshormonen zum Ende der Sensiblen Phase ("Vorherrschaft des Sympathikus") werden die Jungtiere kurzzeitig unsicherer. Mit Cortisol wird zusätzlich die Wachsamkeit und Merkfähigkeit gesteigert. Leider werden die Jungtiere gerade in diesem Zeitraum oft von ihrer Familie getrennt und müssen sich bei ihren neuen Besitzern zurechtfinden. Traumatische Erlebnisse in dieser Zeit (zb. durch Aussetzen ungewollter Jungtiere) oder anhaltender Stress (zb. Animal Hoarding, unzuverlässiges Muttertier) können zu einer dauerhaften Fehlregulation der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse führen. Dies kann diverse chronische und rezidivierende Gesundheitsprobleme, Erschöpfung und Panikattacken nach sich ziehen. Studien zur Jungtierentwicklung beschränken sich bislang zwar hauptsächlich auf Hunde, vergleichbare Phasen habe ich jedoch auch bei verschiedenen Vogelarten, Wildtieren und Heimtieren in der Aufzucht und Betreuung beobachten können. Bei Wildtieren und Wildmixen tritt dann beinahe schlagartig die genetisch veranlagte Scheuheit ein, die sich bis zum Ende der Pubertät vollständig ausbildet.


Hunde: Sensible Phase 1.-8. Lebenswoche, 5.-8. Woche "Vorherrschaft Sympathikus", Sozialisierungsphase bis zur 20. Woche[3]

Katzen: Sensible Phase 2.-7. Lebenswoche, Sozialisierungsphase bis zur 12. Woche[4]

Hauskaninchen: Sensible Phase 1.-8. Lebenswoche, Sozialisierung und Darmmikrobiom-Aufbau bis 16. Woche[6], ein besonders hohes Stresslevel ist während des Absetzens zu erwarten (individuell, meist 6.-9. Woche)

Straßenhunde, Streunerkatzen und andere Wildlebende

Tiere, welche in Freiheit aufgewachsen sind, behalten lebenslang ein hohes Maß an Freiheitsdrang und Selbstständigkeit. Streuner lernen, für sich selbst zu sorgen. Manche wachsen im Gruppengefüge auf, andere nur im eigenen Familienverband und wieder andere völlig sozial isoliert. Manche lebten mit Menschen zusammen, andere kamen gut ohne den Menschen klar. Bei Hunden wurde nachgewiesen, dass Welpen, welche bis zur 14. Lebenswoche keinen Menschenkontakt hatten, gewissermaßen "wild" blieben.[1] Alle diese Faktoren haben also enorme Auswirkungen auf ihr Verhalten als erwachsenes Tier. Für Freigängerkatzen gilt, dass sie sich, einmal an die unbegrenzte Freiheit gewöhnt, meistens nicht mehr auf eine Wohnungshaltung einstellen können. Bei Straßenhunden kann man Ähnliches beobachten. Einige schaffen es nie, sich an unsere reizüberflutende und räumlich begrenzte Haltung zu gewöhnen. Manche Tiere benötigen auch einfach keine Menschen in ihrem Leben - warum sollte man sich von jemandem abhängig machen, wenn man bislang alleine zurechtkam. Ihr ablehnendes Verhalten hat jedoch nichts mit einer zurückliegenden Misshandlung zutun, sondern mit den Bedingungen, unter denen sie aufgewachsen sind.[5]

PTBS und Depression 

Lange Zeit wurden psychische Erkrankungen primär als menschliche Domäne betrachtet. Neuere Studien im Bereich der Verhaltensforschung und Neurobiologie zeigen jedoch deutlich, dass Tiere, ähnlich wie Menschen, unter den Folgen traumatischer Erlebnisse und anhaltender Belastung leiden können. Symptome können übermäßige Wachsamkeit, Schreckhaftigkeit, übersteigerte Emotionen, Meideverhalten, stereotype Bewegungen oder generalisierte Angstzustände umfassen.

Depressionen bei Tieren manifestieren sich oft als Lethargie, Appetitlosigkeit, sozialer Rückzug, verminderte Spielbereitschaft und ein allgemeiner Verlust des Interesses an zuvor angenehmen Aktivitäten. Dies kann bei Tieren nach dem Verlust eines Gefährten, in beengten oder stimulationsarmen Umgebungen oder infolge chronischer Schmerzen beobachtet werden.


Neurobiologische Korrelate

Die neurobiologischen Mechanismen, die PTBS und Depressionen zugrunde liegen, weisen deutliche Überschneidungen zwischen Mensch und Tier auf. Schlüsselregionen im Gehirn, die an der Stressantwort, Emotionsregulation und Gedächtnisbildung beteiligt sind, zeigen bei traumatisierten oder depressiven Individuen beider Spezies signifikante Veränderungen:

Amygdala: Diese Mandelkern-förmige Struktur spielt eine zentrale Rolle bei der Verarbeitung von Angst und Furcht. Bei PTBS, sowohl bei Menschen als auch bei Tieren, wird eine Hyperaktivität der Amygdala beobachtet. Dies führt zu einer übersteigerten Schreckreaktion und einer erhöhten Sensibilität gegenüber potenziellen Bedrohungen. Studien an traumatisierten Nagetieren zeigen eine erhöhte neuronale Aktivität und synaptische Plastizität in der Amygdala.

Hippocampus: Der Hippocampus ist entscheidend für Gedächtnisbildung, insbesondere für kontextbezogene Erinnerungen, und spielt eine wichtige Rolle bei der Regulation der Stressantwort. Chronischer Stress und Trauma können zu einer Volumenreduktion des Hippocampus führen, was die Fähigkeit beeinträchtigt, zwischen sicheren und gefährlichen Kontexten zu unterscheiden und es beeinträchtigt die Gedächtnisfunktion.

Präfrontaler Cortex: Dieser Bereich ist für exekutive Funktionen wie Entscheidungsfindung, Impulskontrolle und Emotionsregulation verantwortlich. Bei PTBS und Depressionen ist oft eine Dysregulation im PFC zu beobachten, was zu einer beeinträchtigten Fähigkeit führt, emotionale Reaktionen zu bewerten und das Verhalten entsprechend anzupassen - die derzeitige Situation sozusagen zu „überdenken“, bevor gehandelt wird.

Neurotransmitter-Systeme: Dysregulationen in Neurotransmittersystemen wie Serotonin, Noradrenalin und Dopamin sind sowohl bei menschlichen als auch bei tierischen Depressionen und PTBS weit verbreitet. Ein Mangel an Serotonin wird beispielsweise oft mit depressiven Symptomen in Verbindung gebracht. Auch die übermäßige Ausschüttung von Stresshormonen infolge einer dysregulierten Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse spielt eine zentrale Rolle bei der Entwicklung und Aufrechterhaltung dieser Störungen.

Da sich die Hirnstruktur der hier behandelten Tierarten etwas unterscheidet und auch die Neurotransmittersysteme nicht immer deckungsgleich ablaufen, können unterschiedliche Ausprägungen und Verhaltensweisen beobachtet werden. In den Grundlagen sind sich Mensch und Tier jedoch sehr ähnlich.


Therapiemöglichkeiten

Die gute Nachricht ist, dass PTBS und Depressionen bei Tieren, ähnlich wie beim Menschen, in gewissem Umfang therapierbar sind. Der Ansatz ist oft multimodal und kombiniert Haltungsanpassungen, Umgangsanpassungen und Verhaltenstrainings mit weiteren unterstützenden Maßnahmen sowie medikamentösen Behandlungen. Medikamentöse Behandlungen mit Psychopharmaka kommen für gewöhnlich dann zum Einsatz, wenn die Tiere aufgrund schwerer
Störungen nicht mehr lernfähig sind. Diese Medikamente mindern Angst und Anspannung, wodurch das Tier für Veränderungen zugänglicher werden soll.

"Dorfhundekrankheit" - Verhaltensprobleme durch Reizmangel

Dieser Begriff fiel in einem Video von Dirk Biller[2] und ich empfand ihn als zutreffend, weshalb ich ihn übernommen habe. Es geht konkret um die Theorie, dass Hunde, die mit wenigen Reizen (oft dörflich) im Alltag leben, sensibler auf sporadische und neue Reize reagieren. Auffallend ist dabei das häufiger problematische Sozialverhalten in dörflichen Gegenden, insbesondere innerartliches Aggressionsverhalten, aber auch Misstrauen gegenüber fremden Menschen. Betroffene Hunde wurden durchaus gut sozialisiert, verlernten ihre sozialen Fähigkeiten jedoch wieder. Dieser Vorgang ist ein Beispiel für eine "Dishabituation", der keine Negativerfahrung vorausgehen musste.

Möglicherweise ist es so zu begründen, dass sich bestimmte synaptische Verbindungen, die nicht regelmäßig genutzt werden, zurückentwickeln (Langzeit-Depression) und stärkeren Verbindungen den Vortritt lassen, welche öfter genutzt werden und dadurch weiter entwickelt sind (Langzeit-Potenzierung). Das kann leider auch bedeuten, dass Tiere, die über längeren Zeitraum ein problematisches Verhalten einstudiert und nach einer Verhaltenstherapie dieses Verhalten abgelegt haben, nach einer Konfrontationspause wieder in alte Verhaltensmuster zurückfallen.

Auch bei Menschen, vor allem bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, konnte nach der längeren Kontaktbeschränkung während der Corona-Pandemie ein Rückgang der sozio-emotionalen Kompetenz beobachtet werden. Viele berichten über eine neue Unsicherheit im Umgang mit Menschen, depressive Verstimmungen und einer Zunahme von Mobbing. Eine Erklärung ist, dass der Mangel an Reizen u.a. zur verminderten Funktion des Präfrontalcortex geführt haben könnte, welcher dann seiner Regulierungsfunktion auf die Amygdala, dem Hauptgebiet der Emotionsentstehung, nicht mehr vollumfänglich nachkommt. Die neuronale Plastizität umfasst allerdings sehr dynamische Vorgänge, was sich bei Reizmangel, insbesondere unter Stress, auf verschiedenste Areale im Nervensystem auswirken kann. Auch in der Ausschüttung von Botenstoffen ergeben sich dann häufig Fehlfunktionen, die zu Stimmungsveränderungen und einer niedrigeren Reizschwelle führen können. Es entsteht ein Teufelskreis.

Berücksichtigt man die lange Umstrukturierungszeit des Gehirns bis zur vollständigen geistigen Reife (bspw. beim Hund  bis zum 4. Lebensjahr, beim Pferd sogar bis zum 7. Lebensjahr), wird auch bewusst, warum eine umfassende Reizgewöhnung im frühen Jungtieralter zwar wichtig, aber längst nicht lebenslang ausreichend ist.

Wichtig ist daher die dauerhafte und ausreichende Konfrontation mit verschiedensten Reizen und der positive soziale Kontakt, um an die Frühsozialisierung anzuknüpfen und keinen Nährboden für aufregungsbedingtes Fehlverhalten zu schaffen.

Selbstverteidigung und offensiver Angriff 

Zur Beendigung einer unerwünschten Situation nutzen Tiere oftmals Aggressionsverhalten. Dabei unterscheidet man grob die Defensive Aggression (Verteidigung) und die Offensive Aggression (Angriff). In den meisten Fällen handelt es sich um defensive Verhaltensweisen, die aufgrund räumlicher Begrenzung in Angriffsverhalten übergehen. Allerdings ritualisieren sich diese Verhaltensweisen über einen längeren Zeitraum, sodass die defensive Körpersprache irgendwann nicht mehr oder nur für Sekundenbruchteile gezeigt wird. Der darauf folgende Angriff ist gewissermaßen "einstudiert". Für das Gehirn ist es leichter, gleiche Sachverhalte gleich zu behandeln, ohne jede Situation neu zu überdenken. Bereits kleine Abweichungen von der üblichen Situation können die Maskerade jedoch zum Einsturz bringen, sodass das Tier gezwungen ist, sich eine neue Strategie zur  Bewältigung der neuen Situation zu überlegen. Ein echter offensiver Angriff dagegen wird weiterhin unbeirrt und selbstbewusst durchgeführt, bis das Ziel erreicht wurde. 

Beide Aggressionsvarianten bergen Verletzungsrisiken für alle Beteiligten. Sie werden bei traumatisierten Tieren meist infolge bestimmter einzelner "Trigger" gezeigt oder erfolgen, im Falle neuronaler Veränderungen, impulsiv und zusammenhangslos. Kognitiv verwahrloste, unsichere Tiere zeigen Aggression eher gegen eine deutlich höhere Bandbreite an Reizen. In allen vorgenannten Fällen stehen die Tiere unter dauerhafter Anspannung, was übersteigerte Reaktionen auslösen kann. Die höhere Erregbarkeit nach einem aggressiven Ausbruch bleibt mehrere Tage bis zu zwei Wochen lang bestehen. Kommt das Tier nicht ausreichend zur Ruhe, entsteht eine Abwärtsspirale.

Bewältigungsstrategien schaffen

Für alle Situationen im Leben entwickeln wir individuelle Strategien, wie am Besten mit diesen umzugehen ist. Besonders wichtig für Tiere mit Angst - und Aggressionsproblemen ist daher, gute Bewältigungsstrategien zu finden, mit denen sie eine stressige Situation bestmöglich überstehen. Dies ist möglich  über "Alternativverhalten" - also Verhaltensweisen, die als Alternative zum ungewünschten Verhalten durch den Tierbesitzer antrainiert werden.

Allerdings muss bei der Wahl des jeweiligen Alternativverhaltens die Ursache des Problems vollständig geklärt und berücksichtigt werden, sonst wird es vom Tier nicht angenommen. Hierbei hilft entgegen der landläufigen Meinung also kein Gehorsam und keine Demut! 

Beispiel: Einem Hund, welcher den Angriff eines Artgenossen befürchtet und der deshalb bereits aus der Ferne Drohsignale sendet, würde kein einfaches "Sitz" als Alternativverhalten  ausreichen - das Kommando schützt ihn nämlich nicht vor dem erwarteten Angriff, seine hohe Erregungslage und Handlungsbereitschaft bleibt also besteht. Mit Druck und Gehorsam könnte hier eventuell ein kurzes "Sitz" erreicht werden, es löst jedoch nicht das grundlegende Problem und die Situation kann weiterhin jederzeit eskalieren. Dies ist in etwa vergleichbar mit einem Kochtopf, dem man vor dem Überkochen einen Deckel aufsetzt, anstatt die Hitze zu reduzieren.

Nur durch eine kleinschrittige Gewöhnung an überfordernde Reize, eine positive Gegenkonditionierung sowie ein  individuelles Alternativverhalten kann nachhaltig ein stressfreies Verhalten aufgebaut werden. Das Tier hat dann eine neue Bewältigungsstrategie erlernt, die das frühere problematische Verhalten immer mehr ersetzt, bis dieses bestenfalls und auf lange Sicht aus dem Verhaltensrepertoire gelöscht wird.

"Bedingungslose Liebe" und "Dankbarkeit"

Haustiere sind normalerweise auf die Versorgung durch den Halter angewiesen. Entsprechend empfinden sie, ja nach Tierart, Haltungsform und Charakter, eine mehr oder weniger starke Bindung an diesen Menschen. Der Oxytocinspiegel steigt bei Tier und Halter nachweislich an, wenn diese vertraut miteinander agieren, eine gewisse emotionale Beziehung besteht also durchaus zwischen Mensch und Tier. 

Jedoch ist "Liebe" eben nicht alles. Jedes Lebewesen ist zunächst daran interessiert, alle lebenswichtigen Bedürfnisse zu befriedigen. Mit jedem sozialen Kontakt geht es dabei eine bestimmte Form von Beziehung ein. Durch ein Zusammenspiel aus Respekt, Sicherheit und Abhängigkeit entsteht auf Dauer eine Bindung, die wir bei unseren Tieren auch als "Liebe" bezeichnen. Diese Bindung muss gepflegt werden, indem dauerhaft alle arttypischen Bedürfnisse Berücksichtigung finden. Streicheleinheiten stehen dabei jedoch erstmal im Hintergrund, sie sind nicht lebensnotwendig, sondern eine Form der Kommunikation und können von eigenständigen Tieren durchaus als aufdringlich sowie von unsicheren Tieren als bedrohlich empfunden werden. 

Auch "Dankbarkeit" gibt es im Tierreich vermutlich nicht. Zwar sind insbesondere Tiere, welche in Sozialverbänden leben, nachweislich zu Empathie fähig - eine Dankbarkeit, wie wir Menschen sie kennen, bleibt Tieren aufgrund ihrer Gehirnstruktur jedoch verwehrt. Um Dankbarkeit zu empfinden, müssen sehr komplexe Denkvorgänge ausgeführt werden, ein Tier müsste fähig sein, sich gezielt und langfristig an die Vergangenheit zu erinnern und vorrausschauend planerisch zu handeln - und das auch noch völlig uneigennützig, was nicht den üblichen Lernvorgängen entspricht. Auch nimmt Dankbarkeit in der menschlichen Gesellschaft als Verhaltensregel ("Sitte") einen gewissen Stellenwert ein, was für unser gutes Ansehen und damit die Akzeptanz  im Sozialgefüge eine Notwendigkeit darstellt - für Tiere jedoch nicht. Dass manche Tiere trotzdem durch Zuneigung soetwas wie Dankbarkeit zeigen, ist also eher auf das durch den Menschen gewonnene Sicherheitsgefühl und die Verstärkung durch positive Emotionen (Entspannung, Sättigung, Schmerzlinderung etc.) zurückzuführen.

Quellen

[1] Del Amo, C. (2024): Handbuch Hundetraining S. 117 (Primärquelle: Scott, 1968)

[2] Teufelskreis für Hundehalter - Unterschied zwischen Dorf- und Stadthunden TGH 434 (https://www.youtube.com/watch?v=OpFlpIgpK18)

[3] Del Amo, C. (2024): Handbuch Hundetraining S. 123 ff.

[4] katzenkundig.de/praegung

[5] Kichhoff, S.; Ganslosser, U.(2023): Verhaltensphysiologie & -medizin, S.23 ff.

[6] Kaninchenwiese.de/soziales/Sozialisierung/

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