Stereotypien bei Hamster, Maus & Co.

Die Faszination für kleine, pelzige Hausgenossen ist groß und so findet man Hamster, Mäuse und Ratten in zahlreichen Haushalten, insbesondere als Haustier für die Kinder. Doch während die Beliebtheit dieser Nager keinen Abbruch findet, rückt immer wieder ein oft unterschätztes Problem in den Vordergrund: die fehlende Kenntnis über ihre spezifischen Bedürfnisse und die daraus resultierende, oftmals nicht artgerechte Haltung. 

Günstige Anschaffung, einfache Haltung? Viele Halter sind sich nicht bewusst, dass die handelsüblichen Käfige, Haltungsmängel im Jungtieralter bei einem Großteil der Vermehrer, eine reizarme Lebensumgebung, fehlende soziale Interaktion mit Artgenossen und Überbelastung durch ständiges Handling gravierende Auswirkungen auf das Wohlbefinden haben. Infolgedessen entwickeln die Nager teils schwerwiegende Verhaltensstörungen, die gerne als lästige Unart abgetan
werden. Dieser Artikel beleuchtet die Ursachen der häufigsten Verhaltensstörung, dem exzessiven Nagen und Buddeln, und zeigt auf, welchen Einfluss man als Halter darauf nehmen kann.

 


Nervige Unart oder Stereotypie?


Auslösende Faktoren


Therapiemöglichkeiten

Nervige Unart oder Stereotypie?

Nagen, Wühlen und Buddeln gehören zu den Grundbedürfnissen von Nagetieren und Kaninchen. Es besteht also ein grundsätzlicher Drang, dieses natürliche Verhalten häufig und in möglichst großem Umfang ausleben zu können. Bei vielen Nagetierarten füllt dies einen Großteil der Aktivitätsphasen aus, weshalb auch bei der Haustierhaltung mit diesen Verhaltensweisen gerechnet werden und die Vorraussetzungen zum Ausleben dieser Handlungen gegeben sein sollten. Trotzdem sind viele Halter genervt, wenn der Hamster gerade nachts versucht, unterirdische Bauwerke anzulegen oder am Käfiggitter klammert und nagt. Ob nun noch ein normales, arttypisches Verhalten vorliegt oder bereits eine Verhaltensstörung, wird wie folgt unterschieden :

 

Sogenanntes „unerwünschtes Verhalten“
 

Es handelt sich hierbei um eine arttypische Verhaltensweise, die in naturgemäßem Umfang gezeigt wird, den Tierhalter jedoch stört. Insbesondere bei Nagetieren wird häufig der Nage- und Buddeltrieb nicht ausreichend befriedigt. Die Aufstellung des Geheges außerhalb des Schlafzimmers schafft Abhilfe. Bitte bringen Sie Ihre Wohnungstiere nur in gut temperierten, ausreichend belüfteten und mit Tageslicht ausgestatteten Bereichen unter. Raucherzimmer, Küche oder Keller sind selbstverständlich keine geeigneten Räume! Viele Nagetiere weisen einen extrem sensiblen Geruchssinn auf und gehören, wie Hunde auch, zu den Makrosmaten. Desweiteren sind sie auf regelmäßiges, ungefiltertes Tageslicht für eine ausreichende Vitamin D-Produktion angewiesen. Ein Mangel führt mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Befindlichkeitsstörungen und Immunschwäche, das gilt auch für nachtaktive Arten. Bitte beachten Sie das Kapitel „Auslösende Faktoren“, um Verhaltensstörungen vorzubeugen. Bieten Sie Ihrem Tier umfangreiche Buddel-, Nage-, sowie Erkundungsmöglichkeiten und lassen Sie durch tägliche Veränderung im Gehege und ausreichend Freilauf keine Langeweile aufkommen.

Normalverhalten kann in verstärkter Intensität auftreten, wenn es (meist unbewusst) bestätigt wurde. Dieser Fall tritt beispielsweise ein, wenn der Mensch auf das Gitternagen mit Füttern oder Türöffnen reagiert. Bei sehr menschenzugewandten Tieren reicht manchmal schon die bloße Aufmerksamkeit des Halters als Verstärker aus.

 

Stereotype Verhaltensstörung
 

  • Erstes Stadium:
    Das Verhalten wird gelegentlich, regelmäßig, aber nur kurz gezeigt. Das Tier bricht das Verhalten selbstständig ab. Der Auslöser ist ein bestimmter Reiz, zum Beispiel das Vorbeigehen des Menschen am Gehege oder das Geräusch der Futtervorbereitung. Es handelt sich meist um eine leichte Zwangsstörung, die zur Bewältigung von akuten Stress-Spitzen (Frust, Ängste etc.) entwickelt wurde. Das Tier hat keine Einschränkung der Lebensqualität. Prognose: Meistens sehr gute und schnelle Therapieerfolge durch Haltungs- und Umgangsoptimierungen.
     
  • Zweites Stadium:
    Das Verhalten wird regelmäßig und übermäßig lange gezeigt. Es benötigt nicht mehr zwingend einen auslösenden Reiz. Das Tier stellt das Verhalten meist nicht mehr von selbst ein, lässt sich aber durch äußere Reize ablenken und unterbrechen. Mit fortschreitender zweiten Phase nehmen arttypische Verhaltensweisen ab, auch der Wach-Schlaf-Rhythmus verändert sich langsam. Prognose: Das längere Ausleben der zweiten Phase führt zu beginnenden Umstrukturierungen im Gehirn, es entsteht selbstbelohnendes, also suchtähnliches Verhalten. Zunächst ist die Lebensqualität nicht oder nur gering eingeschränkt und die Störung kann leicht durch Haltungsoptimierungen, einen gewissenhaften Gesundheitscheck und ggf. Behandlungen durch den Tierarzt sowie allgemeine Stressreduktion behoben werden. Mit der Zeit verfestigt sich dieses Verhalten jedoch, sodass sich die Prognose bereits nach einigen
    Wochen, durch die strukturellen und physiologischen Veränderungen des Nervensystems, deutlich verschlechtert.
     
  • Drittes Stadium:
    Das Verhalten wird dauerhaft, mit nur kurzen zeitlichen Unterbrechungen gezeigt. Das Tier kann das Verhalten nicht mehr selbst beenden. Der Wach-Schlaf-Rhythmus ist deutlich verändert, andere Verhaltensweisen beschränken sich auf die Befriedigung der lebensnotwendigen Bedürfnisse. In extremen Fällen werden Körperpflege, Futter – und Wasseraufnahme ebenfalls fortschreitend vernachlässigt. Interesse an sozialen Interaktionen besteht meist gar nicht mehr. Das Tier ist bei der Ausübung vollkommen selbstversunken, erlebt dabei jedoch einen entspannenden Effekt. Prognose: Die Störung ist meist nicht mehr umkehrbar. Es liegen nun strukturelle Veränderungen im Gehirn vor. In schweren Fällen sollte mit dem Tierarzt eine Euthanasie abgewogen werden, da die Lebensqualität für gewöhnlich stark beeinträchtigt ist. Selbstverständlich sollten trotzdem versuchsweise therapeutische Maßnahmen getroffen werden, denn ein Leben beendet man nur einmal. 

Auslösende Faktoren

  • ungenügende oder nicht arttypische Haltungsgegebenheiten:
    Die Tierärztliche Vereinigung für Tierschutz (TVT) hat Mindestanforderungen in Form von Merkblättern für die Haltung der jeweiligen Tierarten erstellt. Diese Anforderungen wurden stark verallgemeinert, sie werden manchen Individuuen gerecht, anderen wiederum reichen sie nicht ansatzweise aus, sodass es trotz der Einhaltung zu Verhaltensauffälligkeiten kommen kann. Trotzdem stellen diese Datenblätter den Grundstein für die Tierhaltung dar, auf dem weiter aufgebaut werden sollte.
     
  • ungenügende Haltungsbedingungen während der Aufzucht, abruptes Absetzen von der Muttermilch, zu frühe Trennung von der Familie, Aufzucht nur mit Geschwistern und Muttertier statt im gemischten Sozialgefüge, Aufzucht in Boxen oder Buchten, Mangel an Umwelterfahrungen als Jungtier (Deprivation), gestresstes Muttertier
     
  • Erwerb der Verhaltensstörung aufgrund der mangelhaften Haltungsgegebenheiten im Handel (zb. kleine Ausstellkäfige, wechselnde Gruppenstruktur, zu wenig Rückzugsmöglichkeiten). Die Ausstellung in Zoohandlungen bedeutet für Nagetiere vor allem Eines: dauerhaft von Raubtieren angestarrt zu werden, ohne sich entziehen zu können.
     
  • Wildlebend aufgewachsen oder genetischer Einfluss von Wildformen
     
  • häufiges Handling, Rausnehmen, Stören während der Ruhephase, Absetzen an immer wieder wechselnden Orten, Zwangskuscheln
     
  • Raubtiere im näheren Umfeld (Hund, Katze)
     
  • anhaltender Stress in der Gruppe, mit dem Partnertier oder während einer Vergesellschaftung
     
  • Einzelhaltung von Gruppentieren
     
  • Vitamin D-Mangel durch fehlendes ungefiltertes Tageslicht (auch bei nachtaktiven Tieren)
     
  • Schmerzhafte Lichtsensitivität bei rotäugigen Tieren
     
  • Sexuelle Frustration, Erkrankungen der Geschlechtsorgane : die meisten Nager haben natürlicherweise eine sehr hohe Reproduktionsrate und ein entsprechend dauerhaftes Appetenzverhalten. Der Frust ist besonders hoch, wenn Fortpflanzungspartner in der Nähe wahrgenommen, aber nicht erreicht werden können. Die extreme Reproduktionsveranlagung dieser Tiere löst oft auch schwere Krankheiten aus, die meist unentdeckt bleiben, jedoch
    starkes Leiden verursachen. Geläufig sind bislang die sehr häufigen Gebärmutterveränderungen bei Kaninchenweibchen sowie hormonell bedingte Mammatumore von Rattenweibchen. Bei Kaninchenweibchen besteht deshalb mittlerweile sogar die Empfehlung, diese vorsorglich zu kastrieren (als Ovariohysterektomie). Kleinere Tiere werden selten per Röntgen oder anderen bildgebenden Verfahren untersucht, entsprechend werden solche Diagnosen so gut wie nie gestellt. Das heißt aber nicht, dass diese nicht ebenfalls häufig erkranken und leiden.
     
  • Schmerzen durch weitere Krankheiten; Behinderungen und Haltungsschäden bei Qualzuchten
     
  • Fehlendes Nagematerial
     
  • Rohfaser-/ Grünfutterarme Ernährung
     
  • mangelnde Erkundungsmöglichkeiten, Reizarmut im Lebensumfeld
     
  • mangelnde Bewegungsmöglichkeiten, Freilauf
     
  • fehlende Rückzugsmöglichkeiten, mindestens ein Unterschlupf pro Tier
     
  • Überbelegung des Geheges
     
  • Allgemeine Störungen des Biorythmus, zB. durch Lärm, starke Sonneneinstrahlung auf dem Schlafplatz oder gezieltes Aufwecken des Tieres

Therapiemöglichkeiten

Die hier beschriebenen Stereotypien sind ritualisierte Zwangshandlungen, die eine bestimmte Funktion erfüllen. Sie sollten keinesfalls unterbunden werden! Das Tier hat eine Stressbewältigungsstrategie entwickelt und automatisiert. Es benötigt diese Form von Ventil und wird sich beim Wegfall der bisherigen Nagestelle sofort eine neue Möglichkeit zur Durchführung seiner Zwangshandlung suchen. Im notwendigen Bedarfsfall können solche Zwänge sogar in Selbstverstümmelung übergehen. Etwaige Internettipps zu Bitterstoffen, Säuren, Lacken, Duftstoffen oder dem Austausch des Käfigs gegen ein Modell mit hochgeschlossenen, glatten Wänden zur Verhinderung der Verhaltensweisen sind deshalb (und wegen der einhergehenden Vergiftungsrisiken) fahrlässig!
Gitter- und Plastiknagen stellen jedoch gesundheitliche Risiken dar. Der Zahnapparat wird extrem belastet, abgebissene Kleinteile gelangen in den Verdauungstrakt und giftige Inhaltsstoffe aus Lack, Metall und Kunststoff werden zum Teil bereits über die Maulschleimhaut aufgenommen. Auch Schmerzen durch eine verspannte Rücken-, Nacken- und Kiefermuskulatur sind wahrscheinlich – das dürfte menschlichen Zähneknirschern nur zu gut bekannt sein.


Maßnahmen

  • Haltungsoptimierung, wobei alle „Auslösenden Faktoren“ nacheinander ausgeschlossen werden sollten. 
     
  • Umfassende Tierärztliche Untersuchung durch einen Kleinsäugerspezialisten (Heimtier-& Exotentierärzte), auch Maulhöhle, Ohren und innere Organe müssen dabei Berücksichtigung finden. 
     
  • Zukünftige Stressvermeidung, da es sich ursächlich um eine Kompensation von Stress handelt
     
  • An den üblichen Nageplätzen werden alternative, abwechslungsreiche Nagematerialien angeboten:
    - naturbelassene Laubholzäste mit möglichst frischer Rinde, zb. hier  bestellbar
    Äste mit Rinde und möglichst großem Durchmesser werden fest an den Nagestellen montiert.
    Frisch geschnittene, große Obsthölzer mit viel Rinde werden bevorzugt angenommen.
    - Knabberhölzer mit attraktivem Topping, zB. hier bestellbar 
    - biegsame Weidenbrücken lassen sich gut an den meistbenagten Stellen anbringen
    und können auch, zum Winkel gebogen, die Ecken des Geheges auskleiden.
    - bei Heufressern wie Kaninchen und Meerschweinchen sind auch gefüllte Heunetze und Heuraufen möglich, die an den benagten Stellen aufgehängt werden. Dies ist insbesondere im Frühstadium einer Stereotypie sinnvoll. Besonders grobes Heu beschäftigt die Tiere.
    Die Nagetätigkeit muss weiterhin gut möglich sein und soll durch diese Maßnahmen gesundheitsverträglicher werden.
    Keinesfalls dürfen Knabbersteine oder Minerallecksteine angeboten werden!
     
  • Kombination aus L-Tryptophanhaltigen Futtermitteln (Hülsenfrüchte, insbesondere Erdnuss und Soja; Nüsse; für Mäuse und Ratten auch Fleisch, Käse und Eigelb) und kohlenhydratreichen Futtermitteln zur besseren Verstoffwechselung. Übervorsichtige Fütterungsempfehlungen, wie „1 Sonnenblumenkern pro Tag“ sind hier nicht zielführend. Die tierart-individuelle Verdaulichkeit ist zu berücksichtigen.
     
  • beruhigende Pheromone (nur für Kaninchen erhältlich)
     
  • verschreibungspflichtige Schmerzmittel vom Tierarzt - tritt eine Besserung ein, kann von einer ursächlichen oder zusätzlichen Krankheit ausgegangen werden. In manchen Fällen ist eine lebenslange Schmerzmittelgabe erfolgreich.
     
  • Beurteilung der Lebensqualität: bei Tieren, die aufgrund ihrer Zwänge bereits abmagern, dehydrieren, sich wiederholt Verletzungen zufügen oder fast keine normalen Verhaltensweisen mehr zeigen, sollte eine Erlösung durch Euthanasie in Erwägung gezogen werden.
     
  • (Psychopharmaka: Nagetiere kamen zur Forschung an Antidepressiva für die Humanmedizin umfangreich zum Einsatz, die Studienlage dazu ist groß. Mittlerweile findet eine Umwidmung dieser Psychopharmaka, meist Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI), für Hunde mit Zwangsstörungen statt. Eine Umwidmung auch auf Kleinsäuger wäre grundsätzlich zwar möglich, wird jedoch bislang nicht praktiziert.)

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